Kaiserschnitt - eine Bauchentscheidung mit Folgen
Wenn man Ella und ihren Kleinen betrachtet, sieht man eine liebende Mutter und ein fröhliches Baby. Doch sobald die Sprache auf das gemeinsame Geburtserlebnis kommt, glitzern plötzlich Tränen in den Augen und alles Glück bleibt in diesem ABER stecken, das so symptomatisch ist für viele Kaiserschnittmütter.
Vordergründig sind alle Wunden verheilt, der Körper wieder intakt. Die Seele jedoch weiß nicht, wohin mit dem Erlebten. Mütter wie Ella fühlen sich um ihr Geburtserlebnis gebracht und vermissen die unwiederbringlichen, ersten Momente mit ihrem Kind. Dazu mischt sich nicht selten das Gefühl, im entscheidenden Moment allein gelassen zu haben. Eine Last, die nicht leicht zu tragen ist und mit der dennoch so viele Frauen leben.
Und auch wenn der Kaiserschnitt von heute zweifelslos eine großartige Errungenschaft der Notfallmedizin ist, der vielen Frauen und Kindern das Leben rettet, so bleibt er dennoch ein massiver Eingriff, der mit Nebenwirkungen verbunden ist und dem Urereignis Geburt eine künstliche Maske überstülpt.
Jedes vierte Baby wird geholt – ein Trend mit Nebenwirkungen
Mittlerweile kommt in Deutschland jedes vierte Baby per Kaiserschnitt (lat. Sectio caesarea) zur Welt. Eine Zahl, die nach Massenphänomen klingt. Der Kaiserschnitt ist alltäglich geworden. Einerseits macht es das für Kaiserschnittmütter vielleicht leichter. Sie müssen sich für ihre Entscheidung nicht rechtfertigen und medizinisch gesehen ist die Sectio caesarea mit einer Sterblichkeitsrate unterhalb des Promillebereichs ein relativ sicherer Routineeingriff geworden.
Andererseits bleibt in der Alltäglichkeit wenig Raum für das eigene Empfinden, dem es eben oft nicht so ohne Weiteres gelingt, wieder auf Normalnull zu schalten. Ein Kaiserschnitt hinterlässt Narben und nicht alle verblassen sofort in der Erinnerung an einen besonderen Geburtstag. Und während Mütter nach einer spontanen Geburt oft schon nach der Entbindung ihr Kind ohne fremde Hilfe versorgen können, sind Frauen nach einem Kaiserschnitt in den ersten Tagen auf fremde Hilfe angewiesen.
Angst ums Kind bestimmt die Entscheidung für den Kaiserschnitt
Hatten die Eltern die Wahl und werden später nach ihren Gründen für einen Kaiserschnitt gefragt, wird an erster Stelle die „Angst ums Kind“ genannt. Bequemlichkeitsgründe wie die bessere Planbarkeit werden zwar vorgebracht, doch nur von einer kleinen Minderheit. Bei Ella war es ein Notfall und ein Segen der Medizin – ist aber der in aller Munde liegende „Wunschkaiserschnitt“ nur ein mediales Ammenmärchen?
Geburtshilfe-Kosten und Kaiserschnittraten
In den Niederlanden liegt die Geburtshilfe wesentlich stärker in Hebammenhand als in Deutschland und es gibt eine Hausgeburtsrate von 30 %. Eltern, die ohne medizinische Indikation eine Klinikgeburt wünschen, müssen einen Eigenanteil von 70 Euro bezahlen. In Deutschland müssen Eltern, wenn sie eine Geburt zu Hause oder im Geburtshaus planen, die Kosten für die Rufbereitschaft der Hebamme fast immer selbst tragen. Als derzeit einzige gesetzliche Krankenkasse übernimmt die Securvita die Kosten in Höhe von 250 Euro.
Jahr | 1992 | 2008 |
Entbindungen im Krankenhaus | 823.000 | 663.000 |
davon Kaiserschnittentbindung | 126.000 | 200.000 |
prozentualer Anteil | 15,3 % | 30,2 % |
Woher rührt dann die seit Jahren kontinuierlich steigende Rate an Kaiserschnittgeburten? 2008 haben Dr. Caroline Oblasser und Ulrike Ebner für ihr Fotobuch „Der Kaiserschnitt hat kein Gesicht“ 162 Kaiserschnittmütter befragt. Kaum eine von ihnen hatte sich den Kaiserschnitt explizit gewünscht, keine einzige ein zweites Mal. Ähnliches geht aus einer Studie an 1339 Kaiserschnittmüttern hervor, die die Krankenkasse GEK 2006 veröffentlicht hat. Nur zwei Prozent der Mütter gaben an, dass es ein Wunschkaiserschnitt war. 60 Prozent meinten hingegen, sich auf Empfehlung eines Arztes zur Geburt im OP entschieden zu haben.
Fragt man die andere Seite, so wird auch von dort überwiegend Kritik laut. „Meinem Erleben nach sind mittlerweile zwei Drittel der Indikationen für einen Kaiserschnitt nicht wirklich medizinischer Art“, meint Dr. Michael Krause, Facharzt für Geburtshilfe am Klinikum Nürnberg. Machen es sich viele also zu leicht?
„Bei uns können zwei Drittel der Frauen, die es wollen, ihre Kinder in Beckenendlage spontan gebären“, versucht Dr. Krause seit langem mit den gängigen Vorurteilen aufzuräumen. Weder eine Beckenendlage noch ein vorangegangener Kaiserschnitt sind zwangsläufig Indikationen für eine weitere Geburts-OP. Das ist lange bekannt. Dennoch hält der Trend zum schnellen Schnitt an. Verantwortungsvolle Gynäkologen sind frustriert, Hebammen fühlen sich zur OP-Schwester degradiert, Kinder kämpfen mit den Folgen und Mütter trauern um das entgangene Geburtserleben. Wer ist schuld?
Kaiserschnittraten im internationalen Vergleich
2000 | 2006 | |
Deutschland | ||
Lebendgeburten | 766.999 | 672.724 |
davon per Kaiserschnitt | 160.183 | 186.889 |
prozentualer Anteil | 20,9 % | 27,8 % |
Spanien | ||
Lebendgeburten | 397.632 | 482.957 |
davon per Kaiserschnitt | 56.595 | 92.049 |
prozentualer Anteil | 14,2 % | 19,1 % |
Niederlande | ||
Lebendgeburten | 206.619 | 185.057 |
davon per Kaiserschnitt | 25.913 | 25.383 |
prozentualer Anteil | 12,5 % | 13,7 % |
Quelle: Statistisches Bundesamt
Geduld für jede Geburt ist die beste Unterstützung
„Ein gesellschaftliches Problem“, so sieht es Dr. Krause. Das Anspruchsdenken sei gewachsen. Was fehle, seien Zeit und Geduld. Eltern wollen alles richtig machen und sind dementsprechend schnell zu verunsichern. Es gehört nicht viel dazu, eine schwangere Frau in Panik zu versetzen und ihr das Vertrauen in den eigenen Körper und die eigene Gebärfähigkeit zu nehmen. Die Mütter sind heute beim ersten Kind im Schnitt älter als noch vor fünfzehn Jahren. Auch das scheint eine Rolle zu spielen bei der Entscheidung für oder gegen einen Kaiserschnitt.
Geschichte der Sectio
Angeblich verdankt die Sectio Caesarea ihren Namen dem römischen Herrscher Julius Cäsar. Da jedoch Cäsars Mutter die Geburt um etliche Jahre überlebte, kann diese Anekdote gewissenhaft in das Kapitel „dichterische Freiheit“ gesteckt werden.
Tatsächlich stecken in Sectio caesarea die lateinischen Worte secare (schneiden) und caedere (herausschneiden) und vielfach belegt wurde der Kaiserschnitt bereits in der Antike und im Mittelalter angewandt. Doch nur an bereits toten oder sterbenden Müttern, um eventuell das Kind zu retten oder wenigstens noch taufen zu können. Noch 1840 lag die Sterbequote der Mütter nach einem Kaiserschnitt bei nahezu 100 %. Um 1900 sank diese durch das zunehmende Beherzigen aseptischer Grundsätze rapide auf 3 %. Heute verdanken viele Mütter und Kinder dem Kaiserschnitt ihre Gesundheit und ihr Leben.
Unterschieden wird zwischen primärer Sectio, dem sogenannten geplanten Kaiserschnitt, der meist vor dem errechneten Geburtstermin gemacht wird und der sekundären Sectio nach Geburtsbeginn. Während viele Mütter mit einer primären Sectio besser zurechtkommen, da sie sich weniger überrumpelt fühlen, hat die sekundäre Sectio den Vorteil, dass das Kind das Startsignal zur Geburt geben kann.
Mit zunehmendem Alter steigt das Sicherheitsbedürfnis und damit die Tendenz zum Kaiserschnitt
Mit zunehmendem Alter steigt das vermeintliche Sicherheitsbedürfnis. Und genau diese Sicherheit suggeriert zunehmend, wenn auch alle medizinischen Fakten dagegen sprechen, die Kaiserschnittgeburt. Mit den Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung ist außerdem die Zahl der Mehrlingsgeburten angestiegen. Mehr Risikoschwangere, mehr Fortschritte in der Frühgeborenenmedizin treiben die Kaiserschnittrate in die Höhe. Aus der Sicht eines Krankenhausökonoms ist eine Spontangeburt gegenüber dem Kaiserschnitt ohnehin das reinste Verlustgeschäft. Nicht nur, dass für eine vaginale Geburt über eine nicht absehbare Anzahl von Stunden ein komplettes Geburtshilfeteam auf Abruf bereit stehen muss.
Für einen Kaiserschnitt, der terminlich viel besser zu planen ist, darf am Ende auch noch gut und gern das Dreifache kassiert werden. Und die Geburtshilfe ist Hochrisikomedizin mit den höchsten Haftpflichtprämien. Wen wundert es, dass sich Krankenhausleitungen heimlich über jede zusätzliche Sectio freuen. Wäre also damit geholfen, wenn für eine Geburt, egal wie, der gleiche Satz gezahlt würde? Oder wenn Eltern für einen Kaiserschnitt ohne medizinische Indikation einen Eigenanteil zahlen müssten? „Überdenkenswerte Ansätze“, findet Dr. Krause. Zumindest könnte es helfen, in der Geburtshilfe das Augenmerk von viel Technik im hübschem Wohlfühlambiente wieder stärker auf die menschliche Ressource von Geduld und Handwerk zu lenken.
Nur die Mütter können den Trend stoppen
Letztendlich wenden könnten, so Dr. Krause, den Trend jedoch nur die Mütter. Indem sie verlangen, dass die OP die Notfalllösung bleibt. Doch die Mütter können es nicht allein. Sie brauchen Mitstreiter in Form von gut ausgebildetem medizinischen Personal, das etwas von geburtshilflichen Handgriffen außerhalb der OP-Türen versteht und das ohne Prozentvorgaben im Nacken entscheiden kann. Und sie brauchen ein Umfeld, das die Geduld aufbringt, einer Geburt entgegenzubringen, was sie verdient: Zeit, Zuhören und Achtung.
Buchtipp
Kaiserschnitt – Wie Narben an Bauch und Seele heilen können
Geplant oder ungeplant: Hierzulande kommen inzwischen nahezu 22 % aller Babys per Kaiserschnitt auf die Welt – und dieser Trend nimmt zu. Doch welche Folgen hat der »schnelle Weg ins Leben«? Die Erfahrung zeigt: Ein Kaiserschnitt ist mehr als nur ein medizinischer Routineeingriff – er hinterlässt Narben an Bauch und Seele. Dieser Ratgeber unterstützt Frauen darin, sich mit ihren Ängsten und Gefühlen auseinander zu setzen und zeigt, wie Mutter (und Kind) das Erlebte annehmen und verarbeiten können.
Theresia Maria de Jong, Gabriele Kemmler:
Kaiserschnitt – Wie Narben an Bauch und Seele heilen können, Kösel-Verlag kartoniert,
ISBN-13: 978-3466344611
208 Seiten, 15,95 Euro